OECD/FAO-Leitfaden für verantwortungsvolle landwirtschaftliche Lieferketten

Unternehmen, die entlang landwirtschaftlicher Lieferketten tätig sind, stehen vor besonderen Herausforderungen. Wie können sie sicherstellen, dass ihre Geschäftstätigkeiten keine negativen Auswirkungen haben und zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen? Welche Standards für verantwortungsvolles unternehmerisches Handeln gibt es und wie können sie eingehalten werden?

Der „OECD/FAO-Leitfaden für verantwortungsvolle landwirtschaftliche Lieferketten“ richtet sich an alle involvierten Unternehmen. Er deckt die vor- und nachgelagerten Bereiche der Landwirtschaft ab – von der Bereitstellung landwirtschaftlicher Vorleistungen über Produktion, Nacherntebehandlung, Verarbeitung und Transport bis hin zu Marketing, Vertrieb und Verkauf. Darüber hinaus behandelt er Risikobereiche wie Menschenrechte, Arbeitsrechte, Gesundheit und Sicherheit.

Die OECD und die FAO haben diesen Leitfaden entwickelt, um Unternehmen zu helfen, Standards für verantwortungsvolles unternehmerisches Handeln einzuhalten und Due-Diligence-Prüfungen entlang landwirtschaftlicher Lieferketten durchzuführen. Damit soll sichergestellt werden, dass ihre Geschäftstätigkeit keine negativen Auswirkungen verursacht und zu einer nachhaltigen Entwicklung beiträgt. Der Leitfaden besteht aus:

  • einem Muster zur Unternehmenspolitik, das die Standards skizziert, die Unternehmen einhalten sollten, um verantwortungsvolle landwirtschaftliche Lieferketten aufzubauen;
  • einem Rahmen für risikoabhängige Due-Diligence-Prüfungen, der die fünf Stufen beschreibt, die Unternehmen befolgen sollten, um die negativen Effekte ihrer Geschäftstätigkeit zu identifizieren, zu evaluieren, zu mindern und Rechenschaft darüber abzulegen, wie sie diesen Effekten begegnen;
  • einer Beschreibung der größten Risiken, denen sich Unternehmen gegenübersehen, sowie der Maßnahmen zur Minderung dieser Risiken;
  • einem Leitfaden für die Zusammenarbeit mit indigenen Bevölkerungsgruppen.

Direktzugang zur Online-Ausgabe:
www.oecd-ilibrary.org/agriculture-and-food/oecd-fao-leitfaden-fur-verantwortungsvolle-landwirtschaftliche-lieferketten_9789264261235-de

Nachhaltige Entwicklung: EU legt ihre Prioritäten für neuen Konsens fest

Straßburg, 22. November 2016 (RAPID) – Die Europäische Kommission stellt heute ihren strategischen Ansatz für die Verwirklichung einer nachhaltigen Entwicklung in Europa und weltweit vor.

In einer ersten Mitteilung Auf dem Weg in eine nachhaltige Zukunft – Europäische Nachhaltigkeitspolitik wird erklärt, auf welche Weise die zehn politischen Prioritäten der Kommission zur Umsetzung der UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung beitragen werden und wie die EU die Ziele für eine nachhaltige Entwicklung in der Zukunft verwirklichen will. In einer zweiten Mitteilung zu einem neuen Europäischen Konsens über die Entwicklungspolitik werden eine gemeinsame Vision sowie ein gemeinsamer Rahmen für die Entwicklungszusammenarbeit der EU und ihrer Mitgliedstaaten im Einklang mit der Agenda 2030 vorgeschlagen. In einer dritten Mitteilung Auf dem Weg zu einer erneuerten Partnerschaft mit den Staaten in Afrika, im karibischen Raum und im Pazifischen Ozean (AKP-Staaten) werden mögliche Komponenten einer neuen, nachhaltigen Phase der Beziehungen zwischen der EU und den AKP-Staaten in der Zeit nach dem Auslaufen des Partnerschaftsabkommens von Cotonou im Jahr 2020 dargelegt.

Der Erste Vizepräsident Frans Timmermans sagte: „Die Zukunft unserer Kinder und unseres Planeten muss zugunsten aller aufgebaut werden. Deshalb machen wir die Ziele für nachhaltige Entwicklung und die Nachhaltigkeit zum Leitprinzip unserer gesamten Arbeit. Die UN-Agenda 2030 umsetzen bedeutet, dass wir uns gemeinsam engagieren müssen, und dies erfordert die Zusammenarbeit und Unterstützung aller, auch der Mitgliedstaaten und der Zivilgesellschaft insgesamt.“

Die Hohe Vertreterin/Vizepräsidentin Federica Mogherini erklärte: „Wir leben in einer Welt, die stärker verknüpft ist denn je. Daher sind Investitionen in die Menschen jenseits unserer Grenzen auch Investitionen zugunsten Europas. Die heutigen Vorschläge haben das gemeinsame Ziel, eine wirksamere Zusammenarbeit mit unseren Partnern in der ganzen Welt zu erreichen und gleichzeitig die Nachhaltigkeit in Europa und weltweit zu fördern. Dies entspricht dem Kern der Globalen Strategie der EU, die im Juni veröffentlicht wurde. Die EU wird durch ihr auswärtiges Handeln weiterhin Frieden, Demokratie und eine gute Regierungsführung unterstützen, die Widerstandsfähigkeit auf allen Ebenen stärken und dauerhaften Wohlstand für alle fördern.“

Der EU-Kommissar für internationale Zusammenarbeit und Entwicklung, Neven Mimica, fügte hinzu: „Der Vorschlag für einen neuen Europäischen Konsens über die Entwicklungspolitik ist die Antwort der EU auf eine immer stärker vernetzte und komplexer werdende Welt. Es sollte ein echter Konsens sein, der von den Organen der EU und allen Mitgliedstaaten in gemeinsamer Verantwortung getragen wird und uns dabei hilft, als Vorreiter die globalen Maßnahmen voranzutreiben, die für die Verwirklichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung erforderlich sind. Zusammen mit unseren Vorschlägen für unsere künftige Partnerschaft mit den Staaten in Afrika, im karibischen Raum und im Pazifischen Ozean bekräftigt dieser Vorschlag für einen neuen Konsens die eindeutige Bereitschaft der EU, mit ihren Partnern weltweit zusammenzuarbeiten, um eine bessere gemeinsame Zukunft aufzubauen“.

Nachhaltigkeit ist ein europäisches Markenzeichen. Die EU befindet sich in einer starken Ausgangsposition und kann eine beeindruckende Erfolgsbilanz vorweisen: Das Niveau der wirtschaftlichen Entwicklung und des sozialen Zusammenhalts in der EU ist hoch, unsere demokratischen Gesellschaften sind weit entwickelt und es besteht ein starkes Engagement für nachhaltige Entwicklung, das fest in den Europäischen Verträgen verankert ist. Aber um die Zukunft zu sichern, müssen heute die richtigen politischen Weichenstellungen getroffen werden.

Die wichtigsten Elemente des heute vorgestellten neuen strategischen Ansatzes der Kommission sind folgende:

Auf dem Weg in eine nachhaltige Zukunft – Europäische Nachhaltigkeitspolitik

  • Die Antwort der EU auf die Agenda 2030 umfasst zwei Arbeitsbereiche: Der erste besteht darin, die Ziele für nachhaltige Entwicklung in den europäischen politischen Rahmen und die derzeitigen Prioritäten der Kommission zu integrieren; der zweite besteht darin, Überlegungen zur Weiterentwicklung unserer längerfristigen Vision und zum Schwerpunkt der sektorbezogenen politischen Maßnahmen für den Zeitraum nach 2020 einzuleiten.
  • Die Kommission wird alle ihr zur Verfügung stehenden Instrumente, einschließlich der Instrumente für eine bessere Rechtsetzung, nutzen, um sicherzustellen, dass die bestehenden und neuen Maßnahmen das Drei-Säulen-Modell der nachhaltigen Entwicklung berücksichtigen: soziale, ökologische und wirtschaftliche Nachhaltigkeit.
  • Um einen dynamischen Raum zu schaffen, der die verschiedenen Akteure des öffentlichen und privaten Lebens zusammenbringt, will die Kommission eine Plattform einrichten, die zahlreichen Interessenträgern den Austausch über Folgemaßnahmen und bewährte Verfahren bei der Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung in allen Bereichen ermöglicht.
  • Die Kommission wird ab 2017 regelmäßig über die Fortschritte der EU bei der Umsetzung der Agenda 2030 berichten und Überlegungen über die Weiterentwicklung einer längerfristigen Vision mit Blick auf die Zeit nach 2020 einleiten.

Neuer Europäischer Konsens über die Entwicklungspolitik

  • Der Vorschlag für einen neuen Europäischen Konsens über die Entwicklungspolitik spiegelt einen Paradigmenwechsel in der Entwicklungszusammenarbeit im Rahmen der Agenda 2030 wider, der den komplexen und miteinander verknüpften Herausforderungen, denen die Welt heute gegenübersteht, besser entspricht.
  • Der Vorschlag enthält eine gemeinsame Vision und einen gemeinsamen Handlungsrahmen für alle Organe der EU und alle Mitgliedstaaten, mit besonderem Schwerpunkt auf Querschnittsthemen, die wichtige Impulsgeber der Entwicklung sind, wie Geschlechtergleichstellung, Jugend, nachhaltige Energie und Klimaschutz, Investitionen, Migration und Mobilität.
  • Ziel ist die Stärkung der Glaubwürdigkeit, Wirksamkeit und Wirkung der Entwicklungspolitik der EU auf der Grundlage eines gemeinsamen Vorgehens hinsichtlich Analysen, Strategien, Programmierung und Maßnahmen sowie einer verbesserten Berichterstattung.
  • Der neue Konsens soll den Rahmen für alle entwicklungspolitischen Maßnahmen der EU und ihrer Mitgliedstaaten bilden. Ein Beispiel für diesen Ansatz ist der Vorschlag für eine Europäische Investitionsoffensive für Drittländer, bei der öffentliche Entwicklungshilfe zur Mobilisierung von Mitteln aus anderen Quellen genutzt werden soll, um nachhaltiges Wachstum zugunsten der Armen zu fördern.

Auf dem Weg zu einer erneuerten Partnerschaft mit den Staaten in Afrika, im karibischen Raum und im Pazifischen Ozean in der Zeit nach 2020

  • Der Aufbau einer neuen Partnerschaft sollte dazu beitragen, friedliche, stabile, gut regierte, florierende und widerstandsfähige Staaten und Gesellschaften an unseren Grenzen und darüber hinaus zu fördern und unser Ziel einer auf Regeln basierenden multilateralen Ordnung zu erreichen, mit der die globalen Herausforderungen angegangen werden können.
  • Ziel ist es, mit den AKP-Partnerländern ein Rahmenabkommen zu vereinbaren, das spezielle auf Afrika, den karibischen Raum und den Pazifischen Ozean zugeschnittene regionale Partnerschaften, die auf die besonderen regionalen Herausforderungen und Chancen eingehen, ergänzt.

Hintergrund

Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, die im September 2015 von der internationalen Gemeinschaft angenommen wurde, stellt ein ehrgeiziges neues Konzept für die Reaktion auf globale Trends und Herausforderungen dar. Den Kern der Agenda 2030 bilden die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung und die damit verknüpften Zielvorgaben, die bis 2030 verwirklicht werden sollen. Zusammen mit den Ergebnissen der anderen internationalen Gipfeltreffen und Konferenzen des Jahres 2015 in Addis Abeba und in Paris verfügt die internationale Gemeinschaft damit über einen ehrgeizigen neuen Rahmen für die Zusammenarbeit aller Länder bei der Bewältigung der gemeinsamen Herausforderungen. Zum ersten Mal werden Ziele für nachhaltige Entwicklung festgelegt, die universell für alle Länder gültig sind. Die EU ist entschlossen, bei der Umsetzung dieser Ziele die Vorreiterrolle zu übernehmen.

Das Partnerschaftsabkommen von Cotonou bildet seit dem Jahr 2000 den Rahmen für die Beziehungen zwischen der EU und 78 Staaten in Afrika, im karibischen Raum und im Pazifischen Ozean (AKP-Staaten). Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Beseitigung der Armut, auf einer nachhaltigen Entwicklung und der schrittweisen Integration der AKP-Staaten in die Weltwirtschaft. Die Partnerschaft zielt darauf ab, mehr Frieden und Sicherheit zu schaffen und das demokratische politische Umfeld zu stärken. Das Abkommen wird alle fünf Jahre überprüft, und der heute angenommene Vorschlag ist ein weiterer Schritt in der Vorbereitung der Verhandlungen für eine neue Partnerschaft für die Zeit nach 2020.

Weitere Informationen

Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung

MEMO/16/3886 Auf dem Weg in eine nachhaltige Zukunft – Europäische Nachhaltigkeitspolitik: Fragen & Antworten

MEMO/16/3885 Auf dem Weg zu einer erneuerten Partnerschaft mit den Staaten in Afrika, im karibischen Raum und im Pazifischen Ozean in der Zeit nach 2020

MEMO/16/3884 Vorschlag für einen neuen Europäischen Konsens über die Entwicklungspolitik

Communication on the next steps for a sustainable European Future

Communication on A renewed partnership with African, Caribbean and Pacific (ACP) countries

Communication on a new European Consensus on development

Staff Working Document on European action for sustainability

Staff Working Document on A renewed partnership with ACP countries (Impact Assessment)

Summary report of the public consultation onA renewed partnership with ACP countries

Staff Working Document on European Consensus on Development (Assessing the 2005 Consensus)

Staff Working Document Synopsis Report on the consultation on the new European Consensus on Development)

Eurostat report on sustainability

EU’s implementation of the Sustainable Development Goals (SDGs)

“Now actions must speak louder than words” European NGOs react on future European development policy

Buch: Wer überlebt? Bildung entscheidet über die Zukunft der Menschheit

In ihrem Buch „Wer überlebt? Bildung entscheidet über die Zukunft der Menschheit“ stellen die Autoren Klingholz und Lutz in Abhängigkeit künftiger Bildungsinvestitionen verschiedene Szenarien zur Zukunft der Menschheit bis zum Ende dieses Jahrhunderts dar.

csm_9783593505107_e5e6627105»Die Alternative zu Bildung sind Chaos, Elend, ungebremstes Bevölkerungswachstum und immer größere Probleme.«

Die Konfliktlinie des 21. Jahrhunderts verläuft zwischen den Wissensgesellschaften und denen, die den Zugang zu Bildung be- oder gar verhindern, sagen die Bevölkerungsexperten Reiner Klingholz und Wolfgang Lutz. Was das bedeutet, erklären sie im Interview mit campus.de.

»Bildung befähigt uns, über den eigenen Horizont zu sehen, und unseren Lebensstil bewusst zu wählen. Besser Qualifizierte mischen sich stärker in politische Entscheidungsprozesse ein und fördern die Demokratisierung« – so steht es in Ihrem Buch. Lässt das den Umkehrschluss zu, dass Gesellschaften, mit begrenzten Bildungsmöglichkeiten in der Regel weniger demokratisch sind?

Reiner Klingholz: Vom Altertum bis ins Mittelalter wurden die ungebildeten Massen von despotischen Eliten beherrscht. Wo immer erste Ansätze von Demokratie entstanden – etwa im antiken Athen oder im Florenz der Renaissance – konnten zumindest gewisse Teile der männlichen Bürger Lesen und Schreiben. Ihnen fiel es leichter, den Mächtigen auf die Finger zu schauen und sie verlangten nach mehr Mitsprache. Je mehr sich Bildung in der Bevölkerung ausbreitete, desto eher hatten Demokratien eine Chance. In der heutigen Welt zeigt sich ein klarer statistischer Zusammenhang dafür, dass die Bildung möglichst vieler Menschen aus allen Schichten eine notwendige Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie ist, auch wenn es nicht immer eine Garantie dafür ist.

Es gibt direkte und indirekte Gründe dafür, dass Bildung gut für die Demokratie ist. Bildung fördert direkt die Fähigkeit, sich Informationen zu beschaffen, seine eigenen Ansichten zu äußern, sich auf sachliche Diskussionen einzulassen und nach Kompromissen zu suchen. All das braucht eine lebendige Demokratie. Indirekt wirkt Bildung über die wirtschaftliche Entwicklung. Bildung fördert den Wohlstand und derartige Gesellschaften können sich den »Luxus« der Demokratie besser leisten. Auch autokratisch regierte Länder wie Singapur oder China, die massiv in Bildung investiert und einen raschen wirtschaftlichen Aufstieg erlebt haben, bewegen sich langfristig in Richtung mehr Demokratie.

Im globalen Wettbewerb haben Länder mit geringem Bildungsstandard wenige Chancen, sagen sie. Können diese Länder sich selbst aus der Misere befreien oder bedarf dieses Problem einer globalen Lösung?
Wolfgang Lutz: Historisch gesehen haben es viele Länder ohne fremde Hilfe geschafft. Wir beschreiben in unserem Buch Beispiele wie Finnland, das vor 1900 eine der ärmsten Regionen Europas war und dann durch eine massive Bildungsanstrengung nicht nur zum Pisa-Sieger sondern auch zu einer der innovativsten Industrienationen wurde. Oder der kleine Inselstaat Mauritius, der noch in den 1960er Jahren als Musterbeispiel für den Teufelskreis aus Armut, Bevölkerungswachstum und Umweltzerstörung galt. Heute ist er dank eines enormen Bildungsschubes das erfolgreichste Land Afrikas. Ebenso verdanken die asiatischen Tigerstaaten ihren Aufstieg der Tatsache, dass sie ihre eigenen bescheidenen Mittel einst massiv in die Basisbildung der breiten Bevölkerung investiert haben.

In vielen anderen Ländern – vor allem in Afrika  und im Süden und Westen Asiens – ist das nicht geschehen. Dort blieben nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung aus, sondern auch die Kinderzahlen hoch, so dass bis heute die Bevölkerung sehr stark wächst und die Lösung aller Probleme immer schwieriger wird. Die Menschen werden unzufrieden, es kommt zu Konflikten und zu Flüchtlingsströmen, die im Grunde gar nicht überraschend sind.
Der wichtigste Faktor für sinkende Geburtenraten ist die Bildung von Frauen. Absolvieren sie mindestens eine Sekundarschule, bekommen sie deutlich weniger Kinder, sie und ihr Nachwuchs sind gesünder und sie werden unabhängiger von ihren Männern, weil sie besser informiert sind und ein eigenes Einkommen erwirtschaften können. Bildung ist die beste und wirkungsvollste Entwicklungshilfe. Dafür brauchen die am wenigsten entwickelten, meist bitterarmen Länder heute dringend Hilfe von außen. Die Welt kann nicht warten, bis sie dies in einigen Jahrzehnten vielleicht einmal aus eigener Kraft schaffen. Bis dahin werden ihre Bevölkerungen noch um das Drei- bis Fünffache gewachsen sein, die Armut wird sich ebenso ausbreiten wie die Zahl der Konflikte. In allen entwickelten Staaten gibt es aus gutem Grund schon lange eine Schulpflicht und ein Recht auf Schule für alle Kinder bis zum Alter von 16 Jahren. Dies muss für alle Kinder der Welt in gleicher Weise gelten.

Nur ein geringer Teil der internationalen Entwicklungshilfeausgaben gehen in die Bildung. Haben wir das Problem noch nicht erkannt?
Reiner Klingholz:
Auf dem Papier schon. Die neuen Nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen fordern genau dies. Das Problem ist, dass die Ziele bisher nicht umgesetzt werden. Ganze zwei bis vier Prozent der globalen Entwicklungshilfe fließen in Basisbildung, damit können unmöglich alle Kinder eine Sekundarschule absolvieren. Das meiste Geld fließt in große Infrastrukturprojekte, die den lokalen Potentaten gefallen, die der Korruption Vorschub leisten und für die Geberländer exportfördernd sind. Der Bau einer vernünftigen Schule in Mali oder Pakistan, die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern sind in diesem Sinne nicht attraktiv. Den Erfolg von Bildungsanstrengungen spürt man erst in zehn bis zwanzig Jahren, da weiht ein heutiger Präsident lieber eine neue Autobahn ein. Dennoch oder gerade deshalb schreiben wir, dass Investitionen in Basisbildung die wichtigste Hilfe zur Selbsthilfe sind und daher absolute Priorität in der internationalen Entwicklung bekommen sollten.

Beispielsweise gibt es in einigen arabischen oder afrikanischen Ländern einen Jugendüberhang, der keinen Platz in der Gesellschaft und keine auskömmliche Beschäftigung findet. Was ist auf Dauer die Konsequenz daraus?
Wolfgang Lutz:
Das Hauptproblem dieser Länder ist, dass die Bevölkerung schneller wächst als die Chancen der Menschen, vor allem die Chancen, einen Job zu bekommen. Viele junge Erwachsene sehen keine Perspektive, aber im Internet erfahren sie, dass es den Menschen anderswo viel besser geht. Vor allem die Männer unter ihnen neigen dann teilweise zu gewaltsamen Konflikten, sie lassen sich radikalisieren und fallen auf religiöse Bauerfänger rein, die ihnen erklären, dass die Feinde irgendwelche Andersgläubigen sind. Diese Mixtur führt zum Kampf der Bildungskulturen, von dem wir schreiben.

Wer oder was hemmt die Verbreitung von Bildung in Ländern wie Pakistan, Ägypten oder auch in Westafrika?
Reiner Klingholz:
Die meisten dieser Länder waren bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ein Spielball der Kolonialmächte, die nicht in Breitenbildung investiert haben. Sie hatten regelrecht Angst vor einer selbstständigen Bevölkerung. In den meisten dieser Staaten kamen mit der Unabhängigkeit häufig autoritäre Führer an die Macht, die das gleiche Ziel verfolgten: Sie wollten sich mit kleinen Bildungseliten an der Macht zu halten und hatten kein Interesse daran, das Volk durch Bildung zu ermächtigen. In den meisten dieser Länder hat sich die Lage jedoch in den letzten Jahren erfreulicherweise verbessert und die jüngere Generation ist besser gebildet als die ältere. Bedrohlich dagegen sind jene Strömungen aus Kreisen fundamentalistischer Religionsführer oder von Terrorgruppen wie dem IS oder Boko Haram, die jede moderne, naturwissenschaftliche Bildung behindern, die Jungen in Koranschulen verdummen lassen und Mädchen ganz von der Bildung ausschließen.

Was hat Martin Luther mit ihrem Buch zu tun?
Wolfgang Lutz:
Martin Luther war der erste Mensch, der aktiv und erfolgreich für eine Demokratisierung von Bildung gekämpft hat. Er wollte, dass sich jeder Mensch aus der Lektüre der Heiligen Schrift selbst seinen Weg zum Heil erarbeitet. Dafür musste Luther die Bibel in eine Sprache übersetzen, welche die Menschen verstanden. Vor allem musste er etwas tun, damit sie erst einmal Lesen und Schreiben lernten. Deshalb forderte Luther die Alphabetisierung auch des »geringsten Handwerkers« und »jedes Mägdeleins«. Das war weltgeschichtlich neu.

Interessanterweise lässt sich heute zeigen, dass zunächst  die protestantischen Länder im Laufe der folgenden Jahrzehnte – unterbrochen nur durch den 30-jährigen Krieg – diese Bildungsreformen umgesetzt haben und dadurch auch wirtschaftlich erfolgreicher waren. Der Aufstieg der Niederlande und Großbritanniens, die Industrielle Revolution, der spätere Erfolg der Vereinigten Staaten, die Verbesserung der Lebensbedingungen, die immer höhere Lebenserwartung, alle dies lässt sich auf die Bildung breiter Bevölkerungskreise zurückführen und damit letztlich auf die Reformation. Luther selbst hatte das gar nicht im Blick. Als Kind des Mittelalters hätte ihn die folgende Entwicklung hin zur Moderne vermutlich zutiefst verunsichert.

Sie beschreiben in ihrem Buch »Wer überlebt?« unterschiedliche Szenarien zur Zukunft der Menschheit bis zum Ende des 21. Jahrhunderts in Abhängigkeit künftiger Bildungsinvestitionen. Können wir die aktuellen und künftigen Krisen nur überleben, wenn wir den Fokus stärker auf das Thema Bildung setzen?
Beide:
Die Menschheit steht zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor den größten Aufgaben ihrer Geschichte. Sie muss die Armut besiegen, das Bevölkerungswachstum zähmen, den Klimawandel bekämpfen und für Frieden in einer Welt sorgen, die im Moment aus allen Fugen zu geraten scheint. Ohne ausreichende Bildung für die Menschen in allen Ländern sind diese Probleme nicht lösbar. Die Alternative zu Bildung sind Chaos, Elend, ungebremstes Bevölkerungswachstum und immer größere Probleme. Das Dumme ist, dass Bildung Zeit braucht, um ihre Wirkung zu entfalten. Bildung löst akut kein einziges der Probleme, die heute die Zeitungen füllen. Aber auf längere Sicht ist sie ohne Alternative.

Dr. Reiner Klingholz ist seit 2003 Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung und einer der renommiertesten Demografie-Experten Deutschlands.

Prof. Dr. Wolfgang Lutz, einer der weltweit führenden Demografen, ist Direktor des World Population Program am IIASA und des Vienna Institute of Demography sowie Professor an der Wirtschaftsuniversität Wien.

Quelle: Campus Verlag